Was ist lustig am Fasching?
Michael Titze: Die Tiefenpsychologie unterscheidet das Lustprinzip vom Normalitätsprinzip. Der Mensch beginnt als Kind mit dem Lustprinzip und wird durch die Erziehung an das Normalitätsprinzip der Erwachsenen herangeführt. Im günstigen Fall bewegt sich der Mensch zwischen diesen beiden Polen. Wenn er zu sehr in Richtung Normalität geht, kann er zum Melancholiker oder Depressiven werden. Deshalb hat die Gesellschaft seit jeher ein Ventil bereitgestellt, das den Normalitätsdruck reguliert: Im Fasching darf alles geschehen, was normalerweise nicht erlaubt ist. Man wird wieder zum Kind oder zum Narren. Fasching ist ein Spiel von Erwachsenen mit der närrischen Anarchie der Kindheit.
Vor allem die Narrenfunktionäre scheinen den Fasching aber als sehr ernste Sache zu betreiben und wirken manchmal richtig verbissen.
Titze: Das ist beim so genannten Sitzungskarneval zu beobachten. Hier wird der Ernst des Lebens, also das Normalitätsprinzip, nur leicht verkleidet. Es findet kaum eine Annäherung an das anarchische Lustprinzip statt.
Sind Menschen, die Fasching nicht lustig finden, humorlos?
Titze: Nein. Viele Leute sind individualistisch, haben ihren eigenen Humor und feiern ihren eigenen Karneval zu anderen Gelegenheiten. Sie lehnen das Kollektive ab.
Gibt es auch Leute, die nicht zu vernunftorientiert, sondern zu närrisch sind?
Titze: Ja, die Exzentriker. Das kann auch Probleme bereiten [Das sagen], wie auch die Begriffe »Narr« oder »Irrer« besagen. Im Mittelalter waren Geisteskranke Vorbilder für das Ausbrechen aus dem Normalitätsprinzip.
Ist es erstrebenswert, ein fröhlicher Mensch zu sein?
Titze: Da gibt es interessante Untersuchungen der Lachforschung, der Gelotologie. Es ist nachgewiesen, dass Fröhlichkeit und Lachen Stress abbauen. Das Immunsystem wird gestärkt. Im Sozialleben ist ein fröhlicher Mensch sehr viel flexibler und attraktiver. Er steckt andere an. Fröhliche Menschen kommunizieren auch anders: Sie sind witziger, schlagfertiger und nicht aggressiv, sondern selbstironisch. Sie geben anderen Anreize, auf diesen Stil einzugehen. Humorvolle Menschen sind insgesamt sozial kompetenter und für Führungspositionen geeigneter. Auch erotisch sind sie attraktiv.
Lachen ist aber nicht immer positiv, es kann auch gemein und verletzend sein.
Titze: Es gibt das sozial positive und das sozial negative Lachen. Zum zweiten gehört das schadenfrohe, herabsetzende oder zynische Lachen. Es ist ein Lachen auf Kosten anderer.
Zu welchen Schäden kann das sozial negative Lachen führen?
Titze: Kinder und Jugendliche, die zu sehr lächerlich gemacht werden - durch Lehrer, Mitschüler oder auch Eltern - orientieren sich zu schnell in das Normalitätsprinzip hinein. Sie fangen zu früh an, sich zu kontrollieren. Sie werden hölzern.
Als Psychotherapeut versuchen Sie, bei diesen Menschen den Humor zu öffnen. Wie geht das?
Titze: Indem man sich paradox verhält und mit Übertreibungen arbeitet. Eine Grundregel ist, sich nicht für seine Art oder seine unnormalen Eigenschaften zu rechtfertigen, sondern Angriffe bewusst anzunehmen und ironisch zu übersteigern. Wenn einem gesagt wird: »Sie haben aber ganz schön zugenommen«, dann könnte man erwidern: »Ja, kürzlich ist die Hinterachse im Bus gebrochen, als ich eingestiegen bin.« Oder: »Ihre Krawatte sitzt völlig schief.« Man antwortet: »Ja, vorhin habe ich versucht, mich im Keller aufzuhängen.« Mit diesem Muster werden die Leute kreativ und können sich von Zwängen befreien. Die Fähigkeit zur Selbstironie ist dabei entscheidend.
Was ist humormäßig anzustreben?
Titze: Leute, die mit Humor therapeutisch umgehen, definieren ihn als den schnellen, flexiblen Wechsel zwischen Normalitäts- und Lustprinzip. Man gibt sich immer wieder als närrisches Kind und zeigt dennoch, dass man bei ganz hellem Verstand also normal ist.
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